Wer wir sind, was wir wollen.
Wir sind katholische Christinnen und Christen. Wir lieben unseren Glauben und engagieren uns für ihn. Und wir sind der Überzeugung, dass unserer Gesellschaft ohne die Kirche etwas Wichtiges fehlen würde.
Spätestens seit der großen Missbrauchsstudie wissen wir jedoch, dass grundsätzlicher Änderungsbedarf in der katholischen Kirche besteht. Sexueller Missbrauch, die Überwindung einer verbotsorientierten Sexualmoral, die Frage nach Macht und Machtmissbrauch in der Kirche sowie die Stellung von Frauen in der katholischen Kirche und ihre gerechte Teilhabe: Dies alles hängt zusammen. Unsere Glaubwürdigkeit verlangt es, dass wir uns diesen Themen stellen.
Bei 3 öffentlichen Gesprächsabenden in Reutlingen im Oktober und November 2019 haben wir über diese Themen gesprochen und nachgedacht. Die folgenden Überlegungen und formulierten Erwartungen sind das Ergebnis dieses Nachdenkens und miteinander Sprechens. Wir verstehen sie als einen Beitrag zum Synodalen Weg.
- Sexueller Missbrauch
Nach ersten ernstzunehmenden Berichten bereits im Jahre 2010 liegen seit September 2018 die Ergebnisse der MHG-Studie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche Deutschlands vor. Uns irritiert, dass mehr als zwei Jahre danach immer noch der Eindruck herrscht, dass nicht alle deutschen Diözesen bereitwillig und transparent mit unabhängigen Stellen kooperieren, um diesen Skandal aufzuklären, aufzuarbeiten, Wiedergutmachung zu leisten und Präventionsmaßnahmen zu ergreifen, die sexuellen Missbrauch durch Priester, Amtsträger und Vertreter der Kirche in Zukunft verhindern.
- Wir erwarten,
dass alle deutschen Diözesen bereit sind, das vergangene Unrecht aufzuklären, indem sie mit außerkirchlichen und staatlichen Stellen zusammenzuarbeiten. Dies betrifft insbesondere Akteneinsicht auch durch Personen, die nicht der kirchlichen Dienstaufsicht unterstehen.
dass Betroffene von sexuellem Missbrauch vertrauensvoll angehört werden und ihnen zeitnah eine angemessene Wiedergutmachung geleistet wird. Diese Wiedergutmachung muss aus kirchlichem Vermögen geleistet werden und nicht mit Mitteln der Kirchensteuer.
dass von allen Diözesen ein glaubwürdiges und transparentes Präventionskonzept vorgelegt wird.
dass bei neuen Fällen von sexuellem Missbrauch in der katholische Kirche transparent mit kirchenunabhängigen und staatlichen Stellen zusammengearbeitet wird.
- Sexualmoral
Eine menschliche und hilfreiche Sexualmoral muss zunächst die Natürlichkeit und Vielgestaltigkeit von Sexualität wahrnehmen und anerkennen. Ihre Menschlichkeit muss sie erweisen, indem sie dem einzelnen hilft, seine Sexualität zu erkennen, anzunehmen, in seine Persönlichkeit zu integrieren und auf eine menschenfreundliche und gewaltfreie Weise zu leben.
Dies wird von der katholischen Sexualmoral, wie sie im Katechismus der Katholischen Kirche. Kompendium (Pattloch Verlag 2005) formuliert ist, nicht geleistet. (vgl. Nr. 487 – Nr. 502)
Sexualität wird hier in einer monastischen Keuschheitsperspektive gesehen, die plantonisch wirkt. Gelebte Sexualität findet nur in der Idee statt. Das führt dazu, dass in Nr. 492 als „Hauptsünden gegen die Keuschheit“ Selbstbefriedigung und Vergewaltigung in einem Atemzug genannt werden, lediglich durch Kommata getrennt!
Irritierend bleibt auch, dass „homosexuelle Handlungen“ ebenfalls pauschal in dieser Reihe der „Hauptsünden gegen die Keuschheit“ genannt wird. Dies wird humanwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht gerecht, nach denen Homosexualität eine ontologische Variante des Menschseins ist. Das heißt, dass sich ein homosexueller Mensch nicht freiwillig aussucht und aussuchen kann, ob er homosexuell ist oder nicht. Wenn er es aber von seinem gottgeschenkten Sein her ist, muss er es auch menschlich leben dürfen. Hierfür bietet die katholische Sexualmoral bis jetzt keine Perspektive.
Zur Sprache kam von älteren Teilnehmern immer wieder, dass sie unter der rigiden sexuellen Verbotsmoral der katholischen Kirche sehr gelitten haben. Selbstbefriedigung, voreheliche sexuelle Beziehungen, Empfängnisverhütung, gelebte Homosexualität: alles zählte und zählt als schwere Sünde, die das ewige Heil des Menschen zerstören.
Diese angstbesetzte und drohende Verbotsmoral wurde von vielen älteren katholischen Christinnen und Christen als destruktiv und traumatisierend erlebt und ist damit heute ein häufiger Grund für die notwendige Aufnahme einer psychotherapeutischen Behandlung.
Aus heutiger Sicht erscheint deshalb die Verknüpfung von Sexualität und Erbsünde in der theologischen Tradition, z.B. durch den Kirchenvater Augustinus, als fatal. Sexuelles Begehren gilt in dieser Tradition als grundsätzlich sündhaft, es sei denn, es dient in der geheiligten Ehe der Zeugung von Kindern.
Wie die Wirkungsgeschichte dieses sexualfeindlichen Ansatzes zeigt, wurde verbotsorientierte, normative Sexualmoral auch als Herrschaftsmittel eingesetzt. Wenn die geforderten Normen so hoch sind, dass der einzelne sie praktisch kaum erfüllen kann, muss er sich sündig und minderwertig fühlen. Das macht den einzelnen leichter lenkbar, ja erpressbar.
Menschenfreundliche Sexualmoral müsste demgegenüber dem einzelnen helfen, seine Sexualität zu erkennen, anzunehmen, in seine Persönlichkeit zu integrieren und auf eine menschenfreundliche und gewaltfreie Weise zu leben.
- Wir erwarten,
dass das Lehramt der katholische Kirche sich eine menschenfreundliche Sexualmoral zu eigen macht, die die Qualität menschlicher Beziehung und Bindung, Vertrauen, Zärtlichkeit und Gewaltfreiheit ins Zentrum stellt.
dass das Lehramt das Gewissen des einzelnen ernst nimmt und anerkennt, dass Empfängnisverhütung, auch Empfängnisverhütung mit künstlichen Mitteln, in bestimmten Situationen und Phasen eine verantwortliche Entscheidung sein kann.
dass humanwissenschaftliche Erkenntnisse zu Homosexualität ernst genommen werden und homosexuell veranlagten Menschen Perspektiven für eine menschlich integrierte Gestaltung ihrer Sexualität geboten werden.
Die Älteren von uns, die noch selbst unter der Verbotsmoral gelitten haben, erwarten von der Kirche eine Entschuldigung sowie ein Eingeständnis, dass sie durch ihre einseitig verbotsorientierte Sexualmoral viel Leid verursacht hat.
- Macht und Machtmissbrauch
Macht gibt es in jedem Lebensbereich, auch in der Kirche. Vom Evangelium ist jedoch gefordert, dass diese Macht im Bewusstsein der „Armut vor Gott“ (Erste Seligpreisung Mt 5, 3) ausgeübt wird und in Demut vor den Menschen („Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein…“ Mk 10, 43 par Mt 20, 26).
Deshalb sind wir der tiefen Überzeugung, dass Evangelisierung und Fragen der Strukturreform der katholischen Kirche keine Gegensätze sind, sondern dass Umkehr und Strukturreform gerade dann unabweisbar werden, wenn wir uns erneut und ernsthaft dem Evangelium zuwenden.
Im Licht der gegenwärtigen Kirchenkrise nehmen wir mit bedrängender Klarheit wahr, dass die kirchlichen Weiheämter (Priester, Bischof) oft nicht vom Bewusstsein der Armut vor Gott und der Demut vor den Menschen getragen sind, sondern von einem Geist der Selbstsakralisierung, der geweihten Amtsträgern das Bewusstsein vermittelt, einer anderen Seinsebene anzugehören als normal getaufte Christinnen und Christen, und der ihnen Machtprivilegien und Dominanz sichert.
- Wir erwarten,
dass die Weiheämter der katholischen Kirche (Priesteramt und Bischofsamt) von einem vertieften Verständnis des Evangeliums her neu und überzeugend als Dienstämter begründet werden.
dass das kirchliche Recht (Codex Iuris Canonici 1983), das immer noch den Geist des Ersten Vatikanischen Konzils (1871) atmet, im Licht des Evangeliums und des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 – 1965) einer Revision unterzogen wird.
dass Gewaltenteilung auch in der katholischen Kirche eingeführt wird, z.B. durch Einrichtung unabhängiger kirchlicher Verwaltungsgerichte, vor denen sich im Klagefall auch Bischöfe zu verantworten haben.
z.B. durch Einrichtung unabhängiger diözesaner Schiedsgerichte, vor denen Konflikte zwischen Pfarrern und Gemeinden geklärt und fair gelöst werden können.
dass auch nichtgeweihte Christinnen und Christen Mitwirkungsrechte bei der Besetzung von Bischofssitzen bekommen.
dass zunehmend auch nichtgeweihte Christinnen und Christen, die theologisch und seelsorgerlich qualifiziert sind, offiziell mit der Leitung von (Teil-)Gemeinden und mit qualifizierten Aufgaben in Verkündigung und Seelsorge betraut werden können.
dass synodale Gesprächsforen von Bischöfen und Laien (Frauen und Männern) institutionalisiert werden, in denen der Glaubenssinn des Volkes Gottes (sensus fidelium) wahrgenommen und ernstgenommen werden kann.
- Geschlechtergerechtigkeit – Die Stellung von Frauen in der Kirche
Trotz vieler Verbesserungen geht es beim Thema Geschlechtergerechtigkeit immer noch um die angemessene und gerechte Beteiligung von Frauen. Dies gilt in besonderer Weise auch für die katholische Kirche. Die Grazer DogmatikProfessorin Dr. Gunda Werner antwortete im August 2019 der Zeitschrift Christ in der Gegenwart auf die Frage „Was ist für Sie das drängendste theologische Problem der Gegenwart?“: „Die Nichtunterzeichnung der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen durch den Vatikan. Dadurch können die Menschenrechte binnenkirchlich nicht zur Anwendung kommen, und es stellen sich konkrete Diskriminierungen ein. Dazu gehört auch die Frage der Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern.“ (In: Christ in der Gegenwart, Bilder der Gegenwart August 2019, Seite 348)
Weil wir überzeugt sind, dass es dem Evangelium entspricht, wenn sich die katholische Kirche weltweit für die Beachtung der Menschenrechte einsetzt, empfinden wir es als einen schmerzhaften Selbstwiderspruch, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (1948) aus kirchenrechtlichen Gründen bis heute nicht vom Vatikan unterzeichnet wurde.
- Wir erwarten,
dass die katholische Kirche die Menschenrechte, gerade auch die von Frauen, in allen Bereichen der Gesellschaft fordert und fördert.
dass sie um der eigenen Glaubwürdigkeit willen theologische und kirchenrechtliche Wege findet, diese Rechte auch in ihrem Binnenbereich anzuerkennen und zu gewährleisten.
dass sie durch die Öffnung von Weiheämtern auch für Frauen, z.B. die Diakoninnenweihe, ein Zeichen dafür setzt, dass Männern und Frauen vor Gott die gleiche Würde zukommt.
Reutlingen, 28. Februar 2020
Bernhard Bosold, Gabriele Derlig, Dr. Stefan Steinert
Kirchengemeinderäte der Sankt Lukas Gemeinde Reutlingen
Liebe Mitstreiter, hier nochmals eine Einladung für Kurzentschlossene zu einer sehr interessanten Veranstaltung:
Einladung: “Halbieren sich die Kirchen?” 14.11.2020 in Stuttgart. Die Veranstaltung findet trotz Corona statt!
Am 14. November 2020 laden die vier Träger des Konzils von unten zu einer Veranstaltung mit Prof. Raffelhüschen, Freiburg, zum Thema „Projektion 2060: Halbieren sich die Kirchen?“ ein.
Ort: Haus der Katholischen Kirche, Königstraße 7, Stuttgart. Von den S-Bahn-Stationen Schlossplatz und Hauptbahnhof jeweils in ca. 5 min. zu Fuß erreichbar. Beginn: 11 Uhr. Ende 13 Uhr.
Die breit angelegte empirische Studie des Forschungszentrums Generationenverträge an der Uni Freiburg unter der Leitung von Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen hat bundesweit für Aufsehen gesorgt. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Zahl der Kirchenmitglieder bis zum Jahr 2060 halbieren wird. Ursache dafür sind der demografische Wandel, aber auch die nachlassende Bindungskraft und fehlende Reformen der Kirchen. Prof. Raffelhüschen erläutert die Ergebnisse seiner Studie und zeigt auf, welche Wege zur Umgestaltung die Kirchen gehen können.
Alle, die an dieser Thematik (die auch unser Konzil von unten antreibt) interessiert sind, sind herzlich eingeladen. Die Veranstaltung wird in Kooperation mit dem Katholischen Bildungswerk Stuttgart durchgeführt.
Trotz Corona findet die Veranstaltung unter Einhaltung der vorgegebenen Regeln statt! Bildungsveranstaltungen sind zulässig. Es liegt ein ausreichendes Hygiene-Konzept vor: Maximal 50 Teilnehmer in einem großen Saal mit Sicherheitsabstand und Mundschutz.
Eine Online-Anmeldung – möglichst noch bis 13.11.! – ist erforderlich! Von den maximal 50 Plätzen sind noch einige frei (Stand 12.11.). Wir freuen uns, wenn Sie sich noch anmelden und kommen. Bitte Mundschutz mitbringen!
Nähere Infos und Anmeldung hier:
https://www.kbw-stuttgart.de/veranstaltungen/141120-projektion-2060-halbieren-sich-die-kirchen/
Zum Anmeldeformular:
https://www.kbw-stuttgart.de/veranstaltungen/anmelden/?vid=3595